Sie haben ein Problem. Lieben Sie es! – Ein ganz und gar ernst gemeinter Nachdenkimpuls

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Petra Dropmann
29.8.2025
holzfigur, die ein problem gelöst hat

Sie haben ein Problem. Lieben Sie es! – Ein ganz und gar ernst gemeinter Nachdenkimpuls

Was wäre, wenn Sie das Problem nicht hätten?

Sie erzählen, dass Sie ein Problem haben. Und dieses loswerden wollen. Sie haben schon alles Mögliche versucht, doch das Problem bleibt. Haben Sie schon mal den Gedanken ausprobiert, dass Ihr Problem Ihnen nützt? Dass es gut ist, ein Problem zu haben? Oder auch zwei oder drei. Hätten Sie dieses Problem nämlich nicht, dann …

Tja, was wäre dann? Die meisten Menschen antworten hierauf: „Dann ginge es mir besser.“ Gestatten, dass ich nachfrage: „Besser als wem oder was oder wann?“

Eine andere, gern gegebene Antwort: „Dann hätte ich mehr Zeit.“ Gestatten, dass ich auch hier nachfrage: „Zeit für was und wen?“

Noch eine Antwort gefällig? „Dann könnte ich endlich wieder leben.“ Oha – dies bedeutet also, dass die Ist-Situation (Problem) Sie offenbar in das Reich der Untoten geführt hat. Ich kann nachvollziehen, dass Sie dort nicht bleiben wollen.

Sie denken jetzt vielleicht: „Unverschämtheit! Ich HABE ein Problem, und zwar ein dickes! Und ich habe ganz und gar nichts davon! Ich will es loswerden, und zwar schnell und endgültig.“

Ich anerkenne Ihre Empörung. Sie haben ein Problem. Eventuell ist es ein Problem von jener Art und Güte, das nicht durch diesen ganz und gar ernst gemeinten Nachdenkimpuls erfasst und adressiert werden kann. Vielleicht stecken Sie in einem gefühlten Hamsterrad und können sich nicht entscheiden. Oder Sie fühlen sich missverstanden, nicht anerkannt und wertgeschätzt. Oder Ihre berufliche Situation lässt Sie fragen, ob Sie diesen Job überhaupt noch weitermachen wollen und wenn ja, wie. Oder Sie stecken in einer heiklen privaten Situation: Gehen oder bleiben?

Probleme wollen besprochen werden

Probleme haben so viele Gesichter wie es Menschen auf der Welt gibt. Sie haben ein Problem, eines, das Ihnen das Leben schwer macht. Es beschäftigt Sie. Tag und Nacht. Sie denken ausdauernd an dieses Problem. Sie wollen es loswerden, wenn Sie nur wüssten, wie. Sie haben schon mit Ihrem Partner oder Ihrer Partnerin, Ihren Eltern, Ihren Geschwistern, den besten Freunden und Freundinnen, Ihren Kolleginnen und Kollegen hierüber gesprochen.

Wie bitte? Das haben Sie noch nicht getan? – Es wird Zeit, dies zu tun! Denn eines ist sicher: Das Problem muss besprochen werden. Jedes Problem verlangt nach Aufmerksamkeit. Erst, wenn ein Problem viel Aufmerksamkeit bekommt, lohnt es sich, hierüber noch mehr nachzudenken. Schließlich werden Ihnen all die netten Menschen, denen Sie Ihr Problem anvertrauen, Tipps und Lösungen anbieten. Diese müssen erwogen werden. Sie werden Ratschläge erhalten (und sich denken: „Auch Ratschläge sind Schläge …“). Sie werden sich diese Lösungsvorschläge, Tipps und Ratschläge anhören, freundlich nicken und letztlich seufzend denken: „Nichts hilft. Niemand kennt mein Problem schließlich so gut wie ich.“

Wenn ich nur … schlanker wäre

Nehmen wir mal an, Sie haben sich vor ein paar Tagen auf die Waage gestellt. Der Zeiger der Waage schlug unerbittlich weiter und weiter nach rechts (oder die Zahlen der digitalen Waage schnellten in bisher unerkannte Höhen). Sie hatten es geahnt und befürchtet, schließlich schneidet der Hosenbund der letztjährigen Lieblingshose schon länger unangenehm ein, an den Beinen scheint der Stoff eingelaufen zu sein. Nun haben Sie Gewissheit: Sie haben zugenommen! Circa 10 Kilogramm.

Irgendwann in Ihrem Leben haben Sie mal deutlich weniger gewogen. Wenn Sie gedanklich in diese Zeit des ‚deutlich-weniger-Wiegens‘ zurückkehren, werden Sie feststellen, dass dies auch die Zeit war, in der Sie sich agiler, sportlicher, attraktiver, gesünder, munterer, energiegeladener fühlten. Nun fühlen Sie sich wie ein ausgeleierter Kartoffelsack. Oder wie ein aufgegangener Hefekloß.

Was tun Sie? Sie seufzen! Sie denken: „Ich muss abnehmen! Und zwar sofort!“

(An dieser Stelle ist ein deutlicher und (tatsächlich) sehr ernst gemeinter Disclaimer angezeigt: Es gibt Menschen, die Probleme mit ihrem Gewicht haben und es aus medizinischen und gesundheitlichen Gründen angezeigt ist, das Gewicht zu reduzieren. Diese Menschen spreche ich hier ausdrücklich nicht an.)

Was passiert ab diesem Moment? Woran denken Sie? Worüber sprechen Sie? Wem erzählen Sie von Ihrem Vorhaben? Nehmen Sie noch Einladungen an? Und wenn ja, wie? Was machen Sie von nun an den ganzen Tag?

Sie denken und denken, Sie reden und reden. Sie haben schließlich ein Problem. Ein Problem mit Ihrer Figur, ein Problem mit Ihrem Gewicht … irgendwann haben Sie ein Problem mit Ihrer Disziplin.

Wunderbar! Aus dem kleinen Problem ‚Hose ist zu eng‘, ist ein rundum dauerhaftes Problem geworden. Inzwischen kennt es Ihre beste Freundin oder Ihr bester Freund. Ihre Familie wird nun involviert (da es nur noch Grünfutter gibt). Sie nehmen keine Einladungen mehr zum Essen an. Sie quälen sich vielleicht zu irgendeinem Sport oder unterschreiben einen teuren Jahresvertrag in einem Fitnessstudio. Ihre Laune hebt sich nur in den Momenten, in denen Sie auf die Waage steigen und feststellen, dass sie zweihundert Gramm abgenommen haben.

Sie schaffen es, innerhalb von vier Wochen fünf Kilogramm abzunehmen. Sie finden sich großartig. Das Problem scheint sich buchstäblich in Luft aufzulösen. Die Kilos purzeln nur so. Und mit ihnen Ihr Problem. Bald schon könnten Sie aufhören, hierin ein Problem zu sehen. Oder etwa nicht?

Probleme garantieren Aufmerksamkeit

Aber was käme dann? Was machen Sie, wenn Sie es geschafft haben? Wenn Sie die 10 Kilogramm abgenommen haben? Was kommt dann? (Schon mal was vom Jo-Jo-Effekt gehört?)

Genau! Es kann nicht sein, dass Sie nichts mehr zu tun haben. Das Gewichts-Problem ist ein dermaßen altbekanntes, gesellschaftlich akzeptiertes Problem – so was muss man einfach haben! Es gibt nur ganz wenige Menschen, die nicht mit dem Gewicht kämpfen müssen, die essen können, was sie wollen, sie nehmen nicht zu. (Diese Menschen gibt es wirklich. Sie müssen viel essen, um überhaupt ein Normalgewicht zu erreichen. Was im Klartext bedeutet: Diese Menschen haben wirklich ein Problem …).

Aber Sie haben Glück! Sie gehören zu den gefühlten 98 % der Bevölkerung, die mit dem eigenen Gewicht kämpfen und mit der Figur irgendwie unzufrieden sind. Das verbindet. Wer kennt sie nicht, die angstvollen Blicke auf die Waage, den Kampf mit den Pfunden, den Stolz, den man empfindet, wenn man „diätet“. Und den Frust, wenn man wieder zunimmt. Auf ein Neues! Irgendeinen Menschen werden Sie schon finden, der Ihnen zuhört und Ihnen zustimmt („Kenne ich – geht mir ganz genauso!“), der Sie bewundert für Ihre Disziplin, mit der Sie die harte Fastendiät durchziehen, der Ihnen neidvoll oder auch hämisch dabei zusieht, wie Sie an einem Salatblatt lutschen (während sich Ihr Gegenüber genussvoll einen Löffel Tiramisu gönnt). So oder so: Sie können sich der Aufmerksamkeit Ihrer Mitmenschen sicher sein.

Probleme garantieren Beschäftigung

Probleme können aber noch mehr: Sie halten uns auf Trapp und beschäftigt. Rund um die Uhr. Im Falle Ihres (vermeintlichen) Gewichtproblems lesen Sie Bücher wie z.B. „Abnehmen im Schlaf“, Sie probieren die neueste „Meditations-Diät“ aus, Sie laufen sich die Seele aus dem Leib. Sie wachen morgens auf und denken an ein Frühstück und wie dies beschaffen sein muss, damit es gesund, ausgewogen und nicht zu kalorienreich erscheint. Das Gleiche denken Sie über Mittag- und Abendessen und die Zwischenmahlzeiten. Sie nehmen sich vor, nur noch mit Einkaufszettel einkaufen zu gehen. Sie nehmen nur noch kleine Teller, weil Sie sich damit überlisten wollen…. Die Liste ist lang. Sie sind vollauf damit beschäftigt, ein Problem zu lösen.

Aber was machen Sie, wenn Sie Ihr Gewichts-Problem gelöst haben? Fühlen Sie sich besser? – Höchstwahrscheinlich. Hätten Sie mehr Zeit? (Wofür?) Würden Sie endlich wieder leben? (Waren Sie vorher nicht lebendig?)

Masterclass: Probleme, die andere lösen müssten

Sie können auch aufsteigen in die Masterclass der Probleme. Hierbei handelt es sich um Probleme, die Sie haben, die jedoch andere – aus Ihrer Sicht – lösen müssten.

Beispiele gefällig? Es könnte super im Job laufen, wenn nur die Kollegin endlich ein wenig schneller arbeiten würde. Oder die Abteilungsleitung endlich mal eine Entscheidung treffen würde. Oder die Nachbarabteilung einsehen würde, dass man auf Informationen angewiesen ist. Man wäre so ein glücklicher Mensch, wenn nur der Partner oder die Partnerin sich endlich ändern würde. Man wäre viel zufriedener, wenn der Nachbar nicht jeden Samstag grillen würde.

Sie haben ein Problem: Im Job, in der Partnerschaft, in der Freizeit, in der Nachbarschaft. Der Clou: Sie haben zwar das Problem, aber leider können Sie nichts zur Lösung beitragen. Schließlich sind es andere, die sich ändern, etwas tun, das Problem lösen müssten. Ihnen sind da die Hände gebunden. Sie müssen diese Probleme aushalten. Alles, was Ihnen bleibt, ist darüber zu sprechen, zu grübeln, zu erwägen, sich zu ärgern (Probleme garantieren Beschäftigung). Sie können sicher sein, dass es andere gibt, die ähnlich gelagerte Probleme haben (Probleme verbinden) und die Ihnen zuhören (Probleme garantieren Aufmerksamkeit).

Was ich habe, das kenne ich

Warum, um alles in der Welt, wollen Sie Ihr Problem loswerden? Was machen Sie, wenn Sie Ihr Problem nicht mehr haben? Geht es Ihnen wirklich besser? Im Vergleich zu wem oder wann? Haben Sie wirklich mehr Zeit? Für wen oder was? Leben Sie wieder? Was haben Sie vorher gemacht?

Stellen Sie sich das kurz vor: Sie könnten nicht mehr seufzend von der Mühsal berichten, die Ihnen das Problem bereitet. Sie könnten sich nicht mehr selbst anklagen, dass Sie keine Lösung für Ihr Problem finden. Sie könnten sich nicht mehr darüber beklagen, dass andere für das Problem und die Lösung desselben verantwortlich sind. Sie könnten sich nicht mehr der Aufmerksamkeit sicher sein, die Ihnen geschenkt wurde inklusive verständnisvoller Blicke und Gesten.

Es gäbe plötzlich eine Lücke in Ihrem Leben, und zwar eine, die Sie gut kennen: Ihr Problem. Was Sie nicht kennen, ist die Situation ohne das Problem. Wollen Sie sich allen Ernstes in eine Situation begeben, die Sie nicht kennen? Sicher nicht. Und deshalb: Sie haben ein Problem – lieben Sie es.

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